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EbM-Guidelines: Psychiatrische Exploration und Behandlungsorganisation bei Jugendlichen

Behandlungsnotwendigkeit

  • Jugendliche brauchen häufiger psychiatrische Betreuung als Kinder. Etwa 20–30% der Jugendlichen durchleben psychische Krisen. Komorbidität ist häufig; z.B. Depression und Angst treten oft gleichzeitig auf.
  • Die meisten psychischen Störungen, die sich im Erwachsenenalter manifestieren, beginnen im Jugendalter (um das 16. Lebensjahr).
  • Sind bei einem Jugendlichen psychische Probleme erkennbar, so sind eine frühe Intervention und eine niedere Zugangsschwelle zur Therapie essenziell.
  • Die Prävalenz von psychischen Problemen bei Jugendlichen ist sehr hoch, auch in gut organisierten Gesundheitssystemen bleiben 40–60% junger Menschen ohne die erforderliche Behandlung.

Untersuchung eines Jugendlichen

  • Die wichtigste Informationsquelle ist der Jugendliche selbst, ein Gespräch mit den Eltern kann jedoch hilfreiche ergänzende Informationen liefern.
  • Lehrer und Angehörige des schulärztlichen Dienstes können oft schon früh die psychischen Probleme Jugendlicher erkennen.
  • Es sollten wiederholte Gespräche ohne Zeitdruck und in einer offenen Atmosphäre stattfinden.

Zugangsweise

  • Jugendliche sind weder Kinder noch Erwachsene.
  • Respektieren Sie das Streben eines Jugendlichen nach Autonomie und Selbstbestimmung.
  • Ermutigen Sie den Jugendlichen, über seine persönlichen Erlebnisse zu sprechen; zeigen Sie Interesse!
  • Seien Sie neutral und vermeiden Sie es, für Instanzen Partei zu ergreifen, die der Jugendliche als ablehnend empfindet.
  • Achten Sie auf die folgenden Punkte:
    • Wie steht der Jugendliche zu sich selbst und zu seinen Eltern; wie sieht er seinen Körper; wie steht es mit seinem Realitätssinn?
    • Was für ein Verhältnis hat er zu Autorität?
    • Wie sieht er seine Zukunft?
    • Beziehungen zu Gleichaltrigen? Hat der Jugendliche Freunde oder zieht er sich von anderen Menschen zurück?
    • Beeinträchtigen die Symptome das Alltagsleben? Fernbleiben von der Schule?
    • Zeigt der Jugendliche Symptome einer schweren psychischen Störung, die eine eingehende Exploration erforderlich machen würden?
    • Es ist wichtig, mögliche Selbstverletzungen zu beachten und nachzufragen. Selbstdestruktive Gedanken und selbstdestruktives Verhalten sollen offen besprochen werden.

Die häufigsten psychischen Störungen bei Jugendlichen

  • Angststörungen
  • affektive Störungen
  • Aufmerksamkeitsstörungen
  • Verhaltensstörungen
  • Störungen des Realitätssinns, Psychosen
  • Essstörungen
  • selbstdestruktives Verhalten
  • Alkohol- und Drogenmissbrauch

Anzeichen für eine schwere psychische Störung

  • Die Konsultation mit einem Jugendpsychiater ist immer in folgenden Situationen indiziert:
  • mangelhafter Schulerfolg, Rückgang der schulischen Leistungen
  • Selbstmordversuch oder Suizidgedanken in Verbindung mit dem erklärten Wunsch zu sterben.
  • Unkontrolliertes Verhalten zu Hause, tätliche Angriffe auf die Eltern, Zerstörung von Einrichtungsgegenständen; der Jugendliche schließt sich in seinem Zimmer ein.
  • Der Jugendliche ist davon überzeugt, dass sich sein Körper verändert hat oder dabei ist, sich zu verändern.
  • Er reagiert tätlich auf eine verbale Beleidigung.
  • Es besteht Realitätsverlust oder eine Flucht aus der Realität, zum Beispiel durch i.v. Drogenkonsum, schwere Essstörung, Selbstverletzung.
  • Rückzug aus den sozialen Beziehungen

Beeinträchtigter Realitätssinn

  • Eine schwere Psychose, z.B. Schizophrenie, beginnt im Jugend-alter.
  • Es ist wichtig, dass ein Jugendlicher, bei dem mögliche Frühsymp-tome einer Psychose auftreten, behandelt wird, auch wenn die Diagnose „Psychose“ im jungen Alter oft schwer zu bestätigen ist. Die Behandlung von Frühsymptomen soll bereits begonnen werden, noch bevor die eigentliche Psychose auftritt.
  • Die Symptome einer echten Psychose ähneln jenen von Psychosen im Erwachsenenalter.

Depression bei Jugendlichen

  • Depressive Verstimmungen sind bei Heranwachsenden häufig. In den meisten Fällen handelt es sich um Begleiterscheinungen des normalen Reifungsprozesses.
  • Schwere Depressionen können als Verhaltensstörungen maskiert sein (schlechte Laune, Diebstähle, schädlicher Substanzgebrauch), statt sich offen als Depression zu zeigen.
  • Depressionen bei Jugendlichen müssen ernst genommen werden. Bestätigung der Diagnose, Therapieplanung und Betreuung erfolgen im spezialisierten Bereich.

Aggressives Verhalten

  • Ist für dieses Alter in einem gewissen Rahmen typisch; es ist wichtig, Situationen zu erkennen, in denen aggressives Verhalten und Selbstbild des Jugendlichen seine Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen.
  • Die Anzeichen für pathologische Formen der Aggression werden im Abschnitt über „Anzeichen für eine schwere psychische Störung“ beschrieben.

Schädlicher Gebrauch von Alkohol und Drogen

  • Schwerer Alkohol- oder Drogenmissbrauch ist ein Zeichen dafür, dass der Jugendliche in Not ist und Hilfe benötigt. Für eine Beurteilung des Problems sind Informationen von engen Kontaktpersonen oft sehr nützlich.
  • Der problematische Gebrauch von Rauschmitteln ist häufig mit seelischen Problemen verbunden. Der Missbrauch kann der Versuch einer Selbstbehandlung sein. Ebenso kann das Symptom des Missbrauchs auf eine andere psychische Störung hinweisen oder diese verdecken. Somit wird das Erkennen der eigentlichen Störung erschwert.

Psychosomatische Symptome

  • Sind bei Jugendlichen häufig, treten typischerweise in bestimmten Situationen auf und sind passager.
  • Gedanken und Vorstellungen, die mit diesen Symptomen einhergehen, sollten herausgefunden werden (zum Beispiel Angst vor einer schweren Krankheit oder vor dem Tod).
  • In den meisten Fällen tragen ein klärendes Gespräch und eine realistische Information des Jugendlichen dazu bei, dass solche Symptome wieder abklingen.
  • Schwerwiegende, lang andauernde psychosomatische Symptome erfordern die Überweisung zum Jugendpsychiater.

Behandlung

  • Bei Jugendlichen sollte eine Therapie mit Psychopharmaka nur nach strengster Indikationsstellung erfolgen. Das Wissen über Wirkung und Nebenwirkungen von Psychopharmaka (z.B. von SSRI) bei Jugendlichen ist zur Zeit nicht ausreichend, daher ist Vorsicht bei der Verschreibung geboten. Psychopharmaka für Jugendliche sollten von einem Psychiater erstverordnet werden, nach Möglichkeit von einem solchen mit spezieller Erfahrung mit Jugendlichen.
  • Das Risiko einer Abhängigkeit ist einzuschätzen, bevor Anxiolytika verschrieben werden. (Eine Alkoholabhängigkeit und Ablösungs- bzw. Partnerschaftsprobleme stellen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit dar.)
  • Eine psychotherapeutische Unterstützung ist für psychisch auffällige Jugendliche essenziell. Sie brauchen jedoch meist nur eine kurzfristige psychotherapeutische Betreuung.
  • Für die Behandlung von schwereren Störungen ist oft eine Kombination einer medikamentösen Therapie mit einer Psychotherapie notwendig.
  • Zur Behandlung von Psychosen bei Jugendlichen ist häufig eine längere stationäre Behandlung in einer jugendpsychiatrischen Abteilung notwendig; eine Kombination aus medikamentöser Therapie und Psychotherapie ist oft nötig, und auch erfolgreich.
  • Das Streben nach Unabhängigkeit und Autonomie im Verhältnis zu den Eltern führt im Zusammenhang mit Entscheidungen über die Behandlung zu einem ethischen Problem: Wer hat die Autorität, in Fragen, die die körperliche Entwicklung berühren und die therapeutischen Optionen betreffen, zu entscheiden? In der Regel wird man versuchen, die Autonomie des jungen Menschen zu respektieren.

Autor: Kari Pylkkänen
Review: Bernhard Panhofer
Artikel ID: ebd00643 (034.020)
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