Mehr vom einen, mehr vom anderen, oder doch besser eine gute Mischung aus beiden? Dies galt es im Laufe der WONCA Europe Konferenz in Kopenhagen herauszufinden.
Positiv auffallend auch dieses Jahr: wenig Papier, alles elektronisch – von Programm-App bis zu den Abstracts und Postern –, für den einen oder anderen eine Rechtfertigung für ein dauerndes Starren auf das Smartphone… Doch konnte hier das umfassende Programm mit spannenden Workshops und vor allem herausragenden Keynote-Lectures erfolgreich intervenieren; oft genug konnte auch der Blick der 3.100 Teilnehmer der WONCA – unter ihnen 1.050 sogenannte „young doctors“ – auf neue Perspektiven der Allgemeinmedizin gelenkt werden. Die Zahl der Jungen steht als gutes Zeichen dafür, dass der Nachwuchs in Allgemein- und Familienmedizin präsent und engagiert ist.
Am ersten Tag brachte Prof. Paul Glasziou von der Australischen Bond University, selbst fast Urgestein in der Evidence-Based-Medicine-Forschung, eine faszinierende Keynote über die alltägliche Herausforderung der Diagnose. Faszinierende Zahlen, Statistiken und Beispiele zeigten die oft mehr als schwierige Herausforderung der korrekten Diagnostik. Wie in einer Studie (Cooke G et al.) gezeigt wurde, ist die Hälfte aller Konsultationen in einer Ordination in 30 Symptomkomplexen (Conditions) zusammengefasst, die andere Hälfte verteilt sich jedoch auf über 800 verschiedene Symptomenkomplexe. Auf der Online-Datenbank diagnosispro.com werden gar 13.000 Erkrankungen und nicht weniger als 30.000 Abnormalitäten beschrieben. In diesem Überfluss an möglichen Konstellationen, Diagnosen und Symptomkomplexen noch den Überblick zu behalten, geschweige denn im jeweiligen Fall noch die „richtige“ Diagnose zu finden scheint wahrlich unmöglich.
Um den Prozess der Diagnostik darzustellen, erläuterte Prof. Glasziou, dass hier sowohl langsame als auch schnelle Denkprozesse ablaufen. Die schnellen Prozesse, meist Intuition genannt, erfordern natürlich Erfahrung. Doch ist es nicht immer leicht, diese Erfahrung so schnell wie möglich zu akquirieren.
Anhand anderer sehr interessanter Beispiele (DSM V, „Schilddrüsenkarzinom-Epidemie“ in Südkorea etc.) stellte Prof. Glasziou die Problematik der Überdiagnostik als zunehmendes Problem der heutigen Zeit dar. Zusammenfassend mit einem Zitat von Aldous Huxley: Die medizinische Technologie ist so gut, dass bald niemand mehr gesund ist.
Prof. Martin Marshall, Professor für Healthcare Improvement am University College London, stellte in der nächsten äußerst spannenden Keynote folgende Aussicht: Damit die Allgemein- und Familienmedizin („general practice“ im Original) in der Zukunft wachsen kann, müssen Allgemeinärztinnen und -ärzte die Aufmerksamkeit sowohl auf die Wertschöpfung, die sie selbst dem Gesundheitssystem und der Gesellschaft bringen, als auch auf die holistischen Bedürfnisse ihrer Patientinnen und Patienten richten – und das bedeutet, einige Dinge anders anzugehen. Prof. Marshall stellte durchaus ein paar kritische Studien dar und brachte auch Beispiele dafür, dass es sehr wohl auch Länder gibt, wo trotz Fokus auf Primärversorgung das Gesundheitssystem teurer ist. Jedoch stellte er auch wieder die wichtigere Rolle der Primärversorgung und somit der Allgemeinmediziner im Gesundheitssystem dar, denn: Niemand kennt es besser. Wir fungieren eher als Navigatoren durch das Gesundheitssystem, gemeinsam mit dem Patienten, denn als „Heiler“. Für mich persönlich war Prof. Marshalls Feststellung „General Practitioners are specialists in managing uncertainty“ eine ganz wunderbare Erkenntnis für die Beschreibung der täglichen Arbeit.
Es würde bei der Fülle an wunderbaren Informationen, Vorträgen, Workshops, die auch dieses Jahr beim WONCA zu finden waren, den Rahmen hier sprengen, weiter ins Detail zu gehen. Ich kann nur wieder zufrieden feststellen, dass es sich gelohnt hat, den WONCA zu besuchen, neue Kontakte zu knüpfen, bestehende zu pflegen, eine neue Stadt kennenzulernen und auch wieder viel Spannendes zum Thema Allgemein- und Familienmedizin in den unterschiedlichsten Bereichen zu erfahren und zu lernen.
Ein Arzt mit Herz und Hirn zu werden, das gilt es zu erreichen!
Alle Keynotes können unter http://www.woncaeurope2016.com/videos-from-keynote-sessions nachgelesen werden.