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Randgruppenversorgung in der Ausbildung

Ein essenzieller Teil der Ausbildung ist die Reflektion der eigenen Tätigkeit. Etwa die Frage nach den Zielen der Ausbildung oder den zukünftigen Tätigkeiten als Allgemeinmediziner.

Was ist Allgemeinmedizin

Im Gesetzestext findet sich als Aufgabengebiet der Allgemeinmedizin die „medizinische Betreuung des gesamten menschlichen Lebensbereiches, insbesondere die […] Gesundheitsförderung, Krankheitserkennung und Krankenbehandlung aller Personen, unabhängig von Alter, Geschlecht und Art der Gesundheitsstörung“1. Diese Vorgabe ist sehr breit, umfasst jedoch nur den individuellen Patienten. Die europäische Definition der Allgemeinmedizin liest sich anfangs ähnlich, bringt dann aber noch zusätzlich den Aspekt der „professionellen Verantwortung gegenüber der Community“ ins Spiel2.

Dieser Aspekt der „Community-Orientierung“ gewinnt international im Rahmen der Allgemeinmedizinausbildung immer mehr an Bedeutung und stellt eine spannende Verbindung von Public Health und individualisierter Medizin dar.

Damit wird aber auch eine Fülle an neuen Fragen aufgeworfen. Wer sind nun meine Patienten? Nur jene, die zu mir kommen, oder auch jene, die nicht von selbst kommen? Was bedeutet eine Verantwortung gegenüber der „Community“?

Community-Care und Randgruppen

Wer sich niederlässt, wird sich unweigerlich auch mit seiner „Community“ beschäftigen. Es macht für die ärztliche Tätigkeit einen wesentlichen Unterschied, ob ich eine Kassenpraxis in einem Dorf am Land, im Villenbezirk einer Großstadt oder in einem Viertel mit hohem Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund eröffne. Klarerweise wird sich die tägliche Praxis und die speziellen Herausforderungen an den genannten Standorten stark unterscheiden. Nicht zuletzt sind soziale Unterschiede ja bekanntermaßen auch in Österreich mit dem Gesundheitsstatus assoziiert3. Die Identifikation von Risikofaktoren in einer Gemeinde erlaubt es auch, zielgruppenorientierte aufsuchende Programme zu entwickeln und umzusetzen. Etwas, was auch eine Aufgabe der neuen Primärversorgungsteams sein wird.

Derzeit kommen wir in Österreich jedoch zunehmend in eine Situation, in der Kassenverträge für Allgemeinmedizin nicht immer sofort nachbesetzt werden. Einerseits weil zu wenige Allgemeinmediziner-Innen ausgebildet werden, andererseits weil – aus vielfältigen Gründen – nicht alle AllgemeinmedizinerInnen auch einen Kassenvertrag übernehmen. Das kann dazu führen, dass unattraktive Kassenstellen gar nicht mehr nachbesetzt werden können. Für gewisse Bevölkerungsgruppen wird dadurch zukünftig der Zugang zur Primärversorgung unabhängig vom Versicherungsstatus eingeschränkt. Denn gewisse PatientInnen stellen uns als Ärztinnen/Ärzte vor größere Herausforderungen als andere. Und das viel weniger aus medizinischen, sondern oft vielmehr aus psychosozialen Gründen. Der Umgang mit Patienten, die obdachlos, suchtkrank oder z.B. durch Armut gesellschaftlich ausgegrenzt sind, bringt ungleich viel mehr Herausforderungen in den Behandlungsprozess mit ein und erfordert oft andere Herangehensweisen. Werden diese nicht während der Ausbildung erlernt, ist die Gefahr der Frustration viel höher. Damit wird auch die Bereitschaft sinken, sich nach Abschluss der Ausbildung bewusst für die Betreuung von Randgruppen zu engagieren.

Spezialrotationen als Gegensteuerung

Um dem Problem der Unterversorgung zu begegnen, werden in manchen Ländern Ärztinnen/Ärzte für Allgemeinmedizin im Rahmen ihrer postgraduellen Ausbildung Programme angeboten, in denen sie mit Randgruppen oder in unterversorgten Bezirken arbeiten.

Im Rahmen spezieller Programme kommt dabei meist ein Mix aus unterschiedlichen Methoden zum Einsatz, um sich mit den speziellen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Dazu gehören theoretische Schulungen, der Erfahrungsaustausch mit Kolleginnen/Kollegen die in diesem Bereich arbeiten, aber eben auch strukturierte Programme, die ein Arbeiten vor Ort ermöglichen und somit am besten helfen, mögliche Vorurteile abzubauen. Gerade bei diesen Programmen ist natürlich eine begleitende Supervision essenziell.

Das North Dublin City GP Training Programme

Ein erfolgreiches Beispiel dafür, wie dieser Aspekt der Primärversorgung den AllgemeinmedizinerInnen während ihrer Ausbildung nähergebracht werden kann, ist das North Dublin City GP Training Programme4.

In diesem Pilotprojekt bekommen die Jungärztinnen/Jungärzte begleitend zu ihrer Ausbildung Schulungen unter anderem zu Sozialmedizin, aber auch zur Selbstfürsorge (Stressreduktion, Supervision, Balint-Gruppen). Die Lehrpraxen liegen in Gegenden mit einer geringen Dichte an Allgemeinmedizinern, alle Lehrärzte müssen eine Berechtigung zur Teilnahme am Substitutionsprogramm besitzen und auch Substitutionspatienten in Betreuung haben. Zudem bietet das Programm „Special Interest Posts“ an. Dabei verbringen die Jungärztinnen/Jungärzte gegen Ende ihrer Ausbildung einen Tag pro Woche in einer speziellen Gesundheitseinrichtung für Randgruppen, z.B. für Suchtkranke, Obdachlose, Flüchtlinge oder Gefängnisinsassen.

Das Programm ist noch nicht abschließend evaluiert, aber erste Zahlen zeigen, dass die AbsolventInnen sich viel eher für eine Praxis in einem sozial schwachen Bezirk entscheiden als AbsolventInnen aus anderen Trainingsprogrammen. Das Konzept scheint dem Problem der personellen Unterversorgung erfolgreich zu begegnen.

Brauchen wir das in Österreich?

Die Frage, ob es in Österreich überhaupt ein Problem mit Unterversorgung gibt, ist mit Zahlen nicht leicht zu beantworten. Laut EU-SILC-Erhebung haben nur etwa 0,3% der Befragten subjektiv einen unerfüllten Behandlungsbedarf5. Inwieweit dies dem tatsächlichen Bedarf entspricht und ob hier auch Randgruppen entsprechend erfasst wurden, ist schwierig zu sagen. Zudem sind die letzten Zahlen von 2014, und seither ist beispielsweise die Zahl an Flüchtlingen deutlich angestiegen.

Insgesamt scheint es in Österreich wenig Forschung zu diesem Thema zu geben. Die Identifikation von unterversorgten Bezirken geschieht ebenfalls nicht systematisch oder wird zumindest nicht entsprechend veröffentlicht. Ob das daran liegt, dass das Thema in Österreich von so geringer praktischer Relevanz ist, oder hier einfach kein politisches oder gesellschaftliches Interesse vorliegt, lässt sich somit schwer sagen. Wahrscheinlich wird hier aber der Druck durch den sich anbahnenden Mangel an AllgemeinmedizinerInnen in Zukunft steigen. Es würde auf jeden Fall nicht schaden, das Thema auch in der Allgemeinmedizinausbildung unterzubringen. Beispielsweise könnte man hier an die vielen Sonderprogramme wie etwa medcare (Innsbruck), den Virgilbus (Salzburg) oder die Marienambulanz (Graz) zur Versorgung von Randgruppen ankoppeln.

Fazit

Internationale Beispiele zeigen, dass Ärztinnen/Ärzte für Allgemeinmedizin, die während ihrer Ausbildung die Versorgung von Randgruppen oder die Arbeit in geografisch entlegenen Gebieten kennengelernt haben, eher bereit sind, in ihrem weiteren Arbeitsleben eine ähnliche Aufgabe zu übernehmen.

Die Allgemeinmedizin ist naturgemäß breit und vielfältig. Die Ausbildung sollte es auch sein. Die Identifikation mit der europäischen Definition der Allgemeinmedizin könnte im Rahmen der Ausbildung noch gestärkt werden. Der „Community health“-Aspekt ist in der österreichischen Ausbildung für AllgemeinmedizinerInnen nicht strukturell etabliert. Das Angebot von Rotationen in Versorgungseinrichtungen mit einer entsprechenden Zielgruppe könnte deshalb eine sinnvolle Ergänzung zur postgraduellen Allgemeinmedizinausbildung darstellen.

  1. Ärztinnen-/Ärzte-Ausbildungsordnung 2015, Anlage 1, Abschnitt A.
  2. The European definition of general practice/family medicine, WONCA Europe (2011)
  3. Soziale Ungleichheit und Gesundheit, ÖBIG (2002)
  4. http://www.healthequity.ie/#!education-ndcgp/w4hs9
  5. Statistics on Income, Social Inclusion and Living Conditions. Aus Das österreichische Gesundheitswesen im internationalen Vergleich, 4. Ausgabe (2015), S. 55